artikel für Megafon - die Zeitung der Reithalle Bern (www.reithalle.ch)
Anti-Rep-Kampagne zum G8 in Genua Genova – ich erinnere mich
Drei Jahre nach dem G8 von Genua erwachen die Ereignisse um die Prozesse, welche sowohl Demonstrierende als auch die Polizei betreffen. Indymedia Italia lanciert eine internationale Kampagne um das Archiv des Genova Legal Forum (GLF) zu systematisieren, jenes juristische Netzwerk, welches sich uneingeschränkt um die Vorfälle im Juli 2001 kümmert.
Seit dem 2. März eine Verhandlung jeden Dienstag. Im Bunker-Saal des Gerichts von Genua findet der Prozess gegen 25 Personen statt, welche gegen den G8 demonstrieren gegangen waren. Der angebliche Straftatbestand lautet auf «Zerstörung und Plünderung». Die Strafe? 8 bis 15 Jahre Knast. Gegen die Demonstrierenden hat sich von ziviler Seite her das Ministerium für das Innere, jenes der Abwehr, der Justiz und der Vorsitz des Ministerrats zusammengeschlossen. Ein langwieriger Prozess steht bevor: Das Gericht wird 150 Zeugen für die Anklage und Hunderte für die Verteidigung anhören müssen, darunter den Vizepräsidenten des Ministerrates Gianfranco Fini, welcher während des G8 ständig in der operativen Zentrale der Polizei präsent war. Die Beweisführung der Anklage, vom Gericht als gültig erklärt, besteht aus drei DVDs: Ein dreistündiges Video um beweisen zu können, dass der Anti-G8 ein «umstürzlerisches und verabredetes Projekt» war. Diese DVD wurde von einem Polizisten aus Genua auf Bestimmung der Staatsanwaltschaft Genuas zusammengestellt. Wir haben sie gesehen: Es ist ein Schneiden und Flicken, viel Schnitt und wenig Flick. Herausgelöst sind die Szenen, welche Schuld beweisen; der Angriff seitens der Ordnungshüter wird auf den Gegenangriff der steineschmeissenden Demonstrierende limitiert, sowie auch das Zusammenschlagen von Demonstrierenden auf die darauffolgende Zerstörung der Vitrine. Das Video wurde aus den aufgenommenen Bildern der tausenden am G8 anwesenden Augen zusammengestellt: Fernsehteams und Überwachungskameras, Polizei und Stadtpolizei, BewohnerInnen und Demonstrierende. Beschlagnahmungen und Schenkungen – die Staatsanwaltschaft nahm alles entgegen, was sie kriegen konnte. Und der Polizist schnitt kunstvoll mit Musik und Untertiteln zusammen (Untermalungen welche aufgrund der Proteste der Verteidigung gestrichen wurden). Dieses Video wird nun während der Verhöre als Unterstützung der Beweisführung der Anklage ausgestrahlt. Ein Fall, welcher wohl als einmalig in der Geschichte der Rechtswissenschaft zu begreifen ist: Ein veröffentlichter Film wird als Beweismittel akzeptiert. Bis jetzt wurden hauptsächlich Bankdirektoren und EinwohnerInnen Genuas verhört, welche die Ereignisse betreffend der Zerstörungen beschrieben, sie betonten aber auch das Verhalten der Polizei. Mitte September werden die «saftigeren» Verhöre beginnen, in welchen Polizeibeamte und Persönlichkeiten von Institutionen unter Schwur aussagen werden. Auch der Beamte, welcher das Video zusammengeschnitten hat, wird verhört werden: Die Verteidigung wird die Möglichkeit haben, Schnitte und Thesen des Filmes anzufechten. Seit inzwischen zwei Jahren ist den Personen, welche sich im Prozess befinden, jede Form von Vorsichtsmassnahmen (zum Beispiel Präventivhaft) widerfahren. Der krasseste Fall ist der von Gimmy, welcher fast ein Jahr in Vorbeugehaft gesessen hat. Im Ganzen ist es ein Szenarium, welches «exemplarische» Urteile befürchten lässt: Diese Personen riskieren die Sündenböcke einer ganzen Bewegung zu werden.
Die «mattanza» der Diaz
Am 26. Juni wurde der Prozess gegen die 29 Polizisten eröffnet, welche für die «mattanza» (spezielles Wort für Massaker) der Diaz-Schule verantwortlich sind. In der Nacht des 21. Juli 2001 wurde im Gebäude, welches als Schlafort für Demonstrierende diente, eingebrochen und 93 Personen wurden zusammengeschlagen und verhaftet. 62 dieser Personen benötigten notfallmässige Hilfe, 28 mussten hospitalisiert werden, darunter drei in sehr schlimmem Zustand. Fast alle erlitten Schädeltraumas und Brüche an den Armen: Viele schliefen, als sie von einer Masse von maskierten und mit Schlagstöcken (Tonfas) bewaffneten Beamten überfallen wurden. Die dort anwesenden ranghöchsten Beamten sind wegen Falschbeurkundung, Verleumdung und Amtsmissbrauch angeklagt worden. In der dreijährigen Untersuchung sind viele Lügen und falsche Beweisführungen ans Licht gekommen. Eine Tatsache, welche jedoch die Mehrheit der in der besagten Nacht anwesenden Beamten nicht daran gehindert hat, in der Zwischenzeit eine brilliante Karriere zu machen. Die Regierung hat angekündigt, dass bis zu den Anhörungen niemand aus seiner Stelle entfernt wird. In den ersten Anhörungen des Prozesses wird der Richter über die tatsächliche Vertagung des Urteils der angeklagten Polizisten entscheiden müssen. Die Verteidigung versucht nämlich die Vertagung des Prozesses (bedeutet, dass das Verfahren von vorne beginnen müsste) dank einer juristischen Spitzfindigkeit durchzusetzen, in der Absicht die Einstellung zu erreichen, beispielsweise wegen Ablaufen der Frist. Durch die Aufdeckung der Lügen der Diaz-Schule sind hingegen die 93 in der Schule zusammengeschlagenen Personen von einer Reihe von Anklagen, welche am Tag nach dem Polizeiangriff formuliert wurden, entlastet worden. Die Untersuchungsrichterin hat sie wegen «nicht Umsetzen der Tat» freigesprochen und von den Anklagen wegen Widerstand, Aggression und Waffenbesitz entlastet. Die Anklage wegen krimineller Vereinigung zwecks Zerstörung und Diebstahl wurde eingestellt. Die Untersuchungsrichterin hat erklärt, dass diese Entscheidung aufgrund der Lügen der Beamten gefällt wurde, «viele (dieser Lügen) kamen unter falscher Befragung zustande, eine Tatsache, welche die Aussagen in den Protokollen nichtig macht». Zudem erhärten sich diese Aussagen durch Polizisten, welche nach dem Überfall eingetroffen waren und die bestätigten, die Folgen der ausgeübten Gewalt auf die 93, aber keine Spur von Widerstand gesehen zu haben. Es wurde eine Kampagne eingeleitet, um diejenigen einzuladen, welche als ZeugInnen in dieser Nacht anwesend waren, um eine Anklage seitens ziviler Personen zu formulieren.
und damit nicht genug
Betreffend der Gewalttaten in der Polizeikaserne von Bolzaneto - wo viele verhaftete Demonstrierende im Juli 2001 hingebracht wurden - sind 43 Personen (darunter vier Ärzte) wegen spezifischer Gewalttaten angeklagt. Die Untersuchung, welche schon fast abgeschlossen war, wurde mit den Geständnissen einiger Polizeibeamter der Strafvollzugsanstalt, welche mit den Aussagen der Demonstrierenden übereinstimmen, im Februar wieder aufgenommen. Abgerissene Piercings, Schläge und psychologischer Druck. Nazimässiges Marschieren, Spucken, Drohung von Vergewaltigung gegenüber Frauen. Junge Menschen gezwungen zu kriechen, zu bellen, den Kopf in eine ekelhafte Latrine zu stecken. Die Aussagen bringen hohe Tiere ins Spiel, wie den Polizeigeneral der Strafvollzugsanstalt Oronzo Doria und Alfonso Sabella, der Richter welcher die genueser «Gesandtschaft» des Departements der Strafvollzugsadministration leitete. Mit diesen unveröffentlichten Zeugenaussagen ist Licht in die Dunkelheit des Gesetzes des Schweigens und in die Litanei «ich hab nichts gesehen» und «es ist nichts geschehen» gedrungen. Die Beamten versicherten, damals ihre Vorgesetzten informiert zu haben, diese Bekenntnisse veranlassten die Staatsanwälte die Zahl der Untersuchten zu vergrössern. Die Richter von Genua haben ausserdem weitere Prozesse betreffend der Ereignisse um den G8 angekündigt: Einen bezüglich der begangenen Gewalttaten in den Spitälern in der Zone Fiera und in der Kaserne von San Giuliano. Ein weiterer gegenüber 50 Demonstrierenden, welcher nicht der letzte sein könnte: Das Ideal – sagen sie – wäre «ein grosser Prozess im Sinne einer Zugabe». Die betroffenen Personen wären sehr viele – um die hunderte –, welche mit Video und Fotografie identifiziert worden sind; bis anhin sind sie dem Verfahren «gegen Unbekannt» zugeordnet. Doch dieses Verfahren würde durch Namen und Nachnamen erweitert, sobald das Urteil über die anfangs genannten 25 gefällt worden ist – dieses Urteil wäre somit die ideale Basis. In dieser komplexen Situation haben wir eine Klarheit: Es sind die Videos und die dokumentierten Beweise, welche die Grundlage der Prozesse über den G8 in Genua ausmachen. Gerade deshalb hat sich Indymedia Italien entschieden, die Hemdsärmel hochzukrempeln um dem Genua Legal Forum – das juristische Netzwerk – zu helfen. In den letzten Jahren hat das GLF ein grosses Archiv mit Audio, Video, Bildern und Texten zusammengestellt. Dieses Archiv muss digitalisiert und mit dem neuen Material von den Prozessen aktualisiert werden. Von Juni bis Oktober 2004 wird Indymedia wieder in Genua sein. Vier Personen werden Vollzeit im Archiv arbeiten, um daraus ein vollständig brauchbares Instrument für die juristische Arbeit zu schaffen und um sie zur Verfügung des kollektiven historischen Gedächtnisses zu stellen. Zudem werden dutzende von Freiwilligen mit technischer und konkreter Unterstützung der mit dem GLF arbeitenden Gruppe helfen, indem sie das Dossier über Genua aktualisieren und die Prozessnachrichten in andere Sprachen übersetzen. Wir haben beschlossen eine Kampagne für die Finanzierung der Ausgaben der in Genua arbeitenden Personen zu starten: Für die technischen Bedürfnisse und das nötige Material, für die Forschungsarbeit und die Archivierung. Es ist die erste Finanzierungskampagne, die wir durchführen und wir brauchen eure Hilfe. Weil es wirklich nicht der Moment ist, Genova zu vergessen.
Indymedia Italia
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